Auszüge
„Rüdiger hatte bereits seinen Führerschein, und so standen wir in der kalten Jahreszeit an manchen Abenden mit dem alten Volkswagen am Moselufer oder an den Waldrändern, gingen spazieren, saßen anschließend im Auto und redeten und küssten und streichelten uns. Genauer: Rüdiger redete und ich hörte zu, so war es meist. Rüdiger erklärte mir die Welt, oder er versuchte zumindest, mir die Welt zu erklären. Aufmerksam hörte ich zu, aber ich hörte vor allem auf den Klang seiner Stimme, betrachtete sein Profil und war erregt beim Gedanken daran, wo ich wohl heute wieder seine Hände spüren würde. Sie wanderten immer weiter, und ich ließ es gerne geschehen. Dann gab es Momente, in denen auch ich meine Fingerspitzen über Rüdigers Körper streichen ließ und dabei manchmal recht verblüfft war.“
„Zwischen Moselufer und Zurmaiener Straße, in der Nähe des späteren Nordbades, standen die Wohnwagen. Zigeuner. Der neunjährige Rüdiger spielte am Ufer, sammelte Steine, warf sie ins Wasser. Das Mädchen neben ihm, barfuß, in einem bunten Rock, einer weißen Bluse, warf besser als er. Es lachte ihn an und er verliebte sich sofort in sie. Große dunkle Augen; dichtes schwarzes Haar, in der Mitte gescheitelt, zwei dicke Zöpfe, die über den Rücken fielen; weiße Zähne im lachenden Mund; ein Zigeunermädchen. Rüdiger wusste, wie seine Großmutter über Zigeuner sprach: Lumpengesindel, Diebesbande, Ungeziefer. Holt die Wäsche rein, sonst wird sie geklaut, sagte sie dann. Jetzt warfen sie um die Wette flache Steine in die Mosel. In Rüdiger kam ein starkes Gefühl hoch, er war aufgeregt, nicht nur wegen des Wettbewerbs, in dem dann beide doch ziemlich gleich gut waren: mal gelangen ihm die meisten Wasserhüpfer, mal dem Mädchen. Er war froh, mit dem Mädchen zu lachen, bekam eine Gänsehaut, wenn er kurz ihre Hand berührte, ihr den flachsten Stein gab. Die Wärme ihrer Finger, ihres Oberarmes, wenn sie sich gleichzeitig nach einem Stein bückten, spürte er noch abends im Bett vor dem Einschlafen, voller Vorfreude auf den nächsten Tag. Sie liefen am Moselufer entlang, mal Richtung Pfalzel, mal in die andere Richtung, zur alten Römerbrücke, an den mittelalterlichen Kränen vorbei, saßen auf der Wiese, erzählten: er von der Schule, die jetzt gottseidank in den Ferien geschlossen war, sie von den Städten und Ländern, durch die sie mit ihren Eltern, Onkeln, Tanten gezogen war: mit den Wohnwagen und großen Autos, meist in Flussnähe sich länger aufhaltend, in Südfrankreich, in Spanien, und jetzt im Sommer in Deutschland; oft in Deutschland, wo sie geboren sei, wo sie immer wieder für einige Zeit Schulen besuche, ein Schulheft führe, in dem der Lehrer mit Stempel und Unterschrift bestätigen müsse, von wann bis wann sie dort am Unterricht teilgenommen habe.“
„Mit einer heftigen Bewegung beugt sich Rüdiger zu Maria herab, fasst mit der linken Hand unter ihren Nacken, zieht sie ein wenig zu sich hoch. Maria nimmt die Beine von der Rückenlehne, stützt sich auf der Couch ab, rutscht höher, wirft die angerauchte Zigarette in den Aschenbecher, umschlingt Rüdigers Hals mit beiden Händen. An seinen Lippen die Haut von Marias Schulter, in seinem Ohr ihr schneller Atem. Rüdiger umarmt Maria, hält sie fest, umklammert sie, umklammert irgend etwas, das zufällig Maria ist, umklammert ein Gefühl, versucht durch Maria eine Situation festzuhalten, die ihm entgleitet, entglitten ist, spürt den Druck des Mariakörpers, der Mariaarme, einen festen Druck, keinen zärtlichen, den Druck einer Stolpernden, einer Stürzenden, aber vielleicht hält Maria jetzt nicht ihn fest, sondern ihren Vater im Café, vielleicht hat sich Maria eben von der Hand der Mutter losgerissen, ist jetzt, fünfzehn Jahre später, doch noch in das Café hineingelaufen, an dessen Tisch ihr Vater sitzt, der wusste, dass Maria und ihre Mutter einen Termin beim Rechtsanwalt haben, der Maria wenigstens von weitem sehen wollte, sieht, wie ihr Vater auf einmal strahlt, aufsteht und sie sich in seine Arme wirft, wie sie doch aus ihrer Schulbank aufspringt, achtlos das Rechenbuch und das Schulheft auf den Boden fallen lässt, während alle anderen Kinder ihr nachschauen, am Lehrer vorbei aus der Klasse rennt, die Tür ins Schloss fallen lässt, ihren Vater sieht, wie er vor ihr langsam, ganz langsam die Treppen des Schulhauses herabsteigt, wie sie ihn überholt, ihn umklammert und Papapapa ruft.“